Fußgängertunnel als Projektionsfläche für gesellschaftliche Konflikte

Fußgängertunnel als Projektionsfläche für gesellschaftliche Konflikte

Jena Winzerla. In der letzten Sommerferienwoche vom 24.08. bis 26.08.22 wurde der Fußgängertunnel an der Haltestelle Enver-Şimşek-Platz durch Kinder und Jugendliche neugestaltet werden. Pädagogisch getragen wurde die Neugestaltung vom Freizeitladen, dem Jugendzentrum Hugo, Streetwork Winzerla und KoKont. Angeleitet von Michael Graupner und Marcus Jantowski vom Verein „culture interactive“ machten sich elf Mädchen und Jungen daran, die zweimal 46 Meter Tunnelwand mit Motiven neu zu verzieren. „Wichtig ist, dass die Teilnehmer ihre eigenen Ideen umsetzen, dass sie die Chance haben, mit dem Projekt zu wachsen“, sagt Michael Graupner. Er und seine Mitstreiter sehen sich eher als Berater in technischen Fragen etwa im Umgang mit den Farbdosen. Getragen wurde das Projekt zudem vom Jugendzentrum „Hugo“, dem Freizeitladen, Streetwork Winzerla und KoKont. Es entstanden Motive zum Motto „Streetart: Eure Bilder für Vielfalt und Zusammenhalt“.

Der Winzerlaer Fußgängertunnel war in den vergangenen fast vier Jahrzehnten oft ein Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen Diskussionen. Dabei bieten zweimal 46 m Tunnelwand viel Fläche, etwas zu hinterlassen. In den 1980er Jahren erbaut, als der Fußgängerverkehr vom Autoverkehr bewusst getrennt und unter die Erde verbannt wurde, war es schlicht ein Tunnel. Man konnte zum Bus oder zur Siedlung „An der Ringwiese“ kommen.

In der Zeit um die Wende gab es stellvertretend Auseinandersetzungen in Form von politischen Parolen und Symbolen, die an die Wände gesprüht wurden. Die Bandbreite ging dabei exemplarisch von der Frage „DDR-Deutschland?“, über das Anarchiezeichen, hin zu Hakenkreuzen oder menschenverachtenden Parolen wie „Russen raus!“ und „Tunnel nur für Deutsche“ (Originalzitate von der Tunnelwand). Dieser Zustand der Auseinandersetzung wurde zunehmend abgelöst von einem Überhang rassistischer, aggressiver Parolen und Sprüche. In einer Zeit der Unsicherheit und Angst gab es jedoch auch in Winzerla Ansätze und Versuche, dieser Form von Hass etwas entgegenzusetzen.

Sieglinde Seibt, zweite v.r.

Sieglinde Seibt, zweite v.r.

Die 2022 verstorbene und langjährig für Winzerla verantwortliche Pastorin Sieglinde Seibt war dabei eine treibende Kraft. Am Reformationstag 1990 gab es eine Malaktion im Tunnel, wobei Kinder als auch Erwachsene die Möglichkeit erhielten, mit Pinsel und Farbe gestalterisch tätig zu werden und in Widerspruch zu den Parolen zu gehen. Damalige Unterstützer der Aktion waren das Amt für Ordnung sowie das Dezernat für Kultur und der Stadtjugendring. Dies kam gut bei den Leuten an und war ein erster Versuch, auch mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen (nachzulesen im Artikel „Übermalen – nicht übertünchen“ von Uta Schäfer aus „Glaube und Heimat“ Nr. 49, 1990). Leider haben diese Bemühungen und Aktivitäten nicht ausgereicht, das Entstehen des NSU zu verhindern.

Was den Tunnel anbelangt, so war dieser weiter ein Ort der Auseinandersetzung, bis es im August 2008 eine große Aktion der Umgestaltung gab. Auf Initiative des damaligen Ortsteilrats, der Bürgerstiftung und des Bürgervereins Winzerla hatte das Team von „Farbgefühl“ (Michael Pook und Michael Drosdek) die Aufgabe bekommen, den Tunnel mit 12 Jugendlichen komplett zu gestalten. Der ursprüngliche Plan veränderte sich, und es beteiligten sich ca. 80 Leute in der Altersspanne von sieben-67 Jahren, wie Gabi Meister in der damaligen Stadtteilzeitung berichtete. Der ehemalige Ortsteilbürgermeister Mario Schmauder und Pastorin Friederike Costa (Nachfolgerin von Sieglinde Seibt) sprühten begeistert mit und stießen im Eifer des Gefechts mit den Köpfen zusammen. Insgesamt dauert die Aktion damals vier Wochen, und „Farbgefühl“ verarbeitete 250 Liter Lack und Wandfarbe. Damit gelang eine tolle Gestaltung, die nicht für, sondern mit den Menschen umgesetzt wurde. Einige Jahre blieb das Gesamtkunstwerk unangetastet und wurde nicht übersprüht.

Im Jahr 2015 war der Tunnel dann noch einmal heiß diskutiertes Thema der Stadtpolitik, allerdings mit einer ganz anderen Fragestellung. Gemeint ist die Ampeldiskussion, als der heutige Enver-Şimşek-Platz unterhalb der Rewe-Kaufhalle neugestaltet werden sollte. Innerhalb dieser Planungen ging es um die Frage einer Fußgängerampel und deren Sinn, wenn es ja einen Tunnel gibt, den jedoch insbesondere ältere Menschen als Angstort bzw. Barriere wahrnehmen. Im Ergebnis wurde als Kompromiss beschlossen, dass Ampel und Tunnel bleiben können. Dem Tunnel wurde 2015 eine mögliche Lebensdauer von bis zu 30 Jahren vorhergesagt. Erst wenn Kosten für eine Sanierung notwendig werden, würde er zugeschüttet. Kurzum der Tunnel wird sicher noch Jahre bestehen.

Vor etwa sechs bis sieben Jahren begann der schleichende Prozess, dass es wieder zu Parolen und Verschandelungen kam. Auf Initiative von KoKont erfolgte Anfang 2022 die Entfernung menschenverachtender Sprüche und Gewaltaufrufe. Es entstand die Idee, nach 14 Jahren eine weitere Neugestaltung in den Blick zu nehmen, da an vielen Stellen unansehnlich übersprüht wurde. Wieder sollen dabei Kinder und Jugendliche aktiv in den Schaffensprozess eingebunden werden.

Wer mit wachem Auge durch den Tunnel geht, kann sich selbst eine Meinung bilden, ob die erneute Umgestaltung ansprechend ist.

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