Flüchtlinge: Das ist erst der Anfang

Flüchtlinge: Das ist erst der Anfang

Jena Winzerla. Eine „modulare Bauweise“ plant die Stadtverwaltung für die Flüchtlingsunterkunft Hugo-Schrade-Straße, um „andere Nachnutzung“ zu ermöglichen. An diese glaube ich nicht. Der Umbau der Turnhalle in der Schrödingerstraße, die zweimal in diesem Jahr als Flüchtlings-Notunterkunft genutzt wurde, zeigt, dass das keine Episode war. Was passiert, das ist erst der Anfang. Mauerfall und Golfkrieg 1989-91, das waren die zwei Seiten einer Medaille. Während in Deutschland die Ost/West-Konfrontation zu Ende ging, verschärften sich im „Rest der Welt“ Konflikte. Samuel P. Huntington prophezeite 1993 in der außenpolitischen Zeitschrift „Foreign Affairs“ für das 21. Jahrhundert den „Clash of Civilizations“, einen Zusammenprall der diversen Weltkulturen.
Jahrhunderte lang bildeten Europäer ein Fünftel, heute nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung. Mitte des Jahrhunderts wird nicht einmal Deutschland mehr zum G8, dem Kreis der acht größten Industrienationen gehören. Der italienische Deutschlandbewunderer Angelo Bolaffi erinnerte uns daran, „dass im Jahr 2050 in jedem europäischen Staat nur noch jeweils weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung lebt“ (Deutsches Herz – Das Modell Deutschland und die eu-ropäische Krise, Stuttgart 2014). Rest der Welt, das sind wir – allerdings ein attraktiver!
Weder die Grenzen des bereits Mitte der achtziger Jahre gegründeten Schengen-Raums noch die Deutschlands können weltweite Migration aufhalten. Zwischen der Türkei und der zum EU-Raum gehörenden griechischen Insel Samos beträgt der Abstand an der kürzesten Stelle gerade mal eine Seemeile. Würde die griechische Küstenwache dort verstärkt patrouillieren, verringerte sie nur den Abstand, den die von der Türkei kommenden Schlauchboote zurücklegen müssen und schaffte somit noch einen größeren Anreiz zur Flucht. Der in Hamburg und Istanbul tätige Seerechtsspezialist Kubilay Falkenberg erläutert: „Die griechische Küstenwache könnte zwar versuchen, von der türkischen Küste kommende Schlauchboote abzudrängen, müsste deren Insassen aber aus Seenot retten, sobald diese ihr Schlauchboot undicht machen“ (Frankfurter Allgemeine vom 28.11.2015). Genau das passiert dort ständig.
Grenzen heutzutage sind mancherorts unbedeutend geworden, anderswo existentieller denn je. Vor den Attentaten von „9/11“ war die „gute“ Grenze zwischen USA und Kanada auf weiten Abschnitten kaum erkennbar, führte ein Dornröschendasein, von Pflanzen zugewuchert. Sie verbindet in etwa gleiche Lebensverhältnisse. Hingegen die „böse“ Grenze zwischen USA und Mexiko trennt den reichen Norden vom armen Süden. Ihre Befestigung, der weitere Ausbau gleicht einem Hase-und-Igel-Wettlauf. Undurchlässig ist sie jedenfalls ebenso wenig wie die ebenfalls seit Jahren aufgerüsteten 4000 Kilometer Grenzbefestigungen zwischen Indien und Bangladesch, die Armutsmigranten nach Indien abhalten sollen. Es ist offenbar ein Aberglaube, Grenzen wären etwas Überzeitliches. Stadtmauern waren einmal sehr wichtig – heute sind deren Reste nur noch von touristischem Interesse, als Erzählstoff für Stadtführer. Manche Abgrenzungen kehren in anderen Epochen in veränderter Form wieder: Die Gated Communities einiger Städte erinnern an die Burgen von einst. Historischer Wandel macht auch vor Grenzen nicht Halt.
Als wir 2015 aus dem Urlaub kamen, wurde der Vorhang weggezogen, der Weltregionen, die nicht zu unseren Urlaubszielen zählen, verbarg. Wir sehen Armuts- und Kriegsflüchtlinge. Irgendwann werden in unseren Städten, wo wir unsere Kleinen mit dem SUV zu Kita und Schule chauffieren, auch Klimaflüchtlinge auftauchen. Eine Erwärmung um vier Grad gefährdet weltweit 470 bis 760 Millionen, unserer Klimaziel („nur“ zwei Grad) beträfe noch 130 Millionen in Küstenregionen. Wer hat schon von Beira gehört? Mit rund 700.000 Einwohnern ist es die zweitgrößte Stadt und zugleich das Wirtschaftszentrum von Mosambik. Hier versinken bereits die ersten Häuser im Meer. In Indonesien sind nach Angaben des World Wide Fund for Nature (WWF) 2015 für unseren Palmölverbrauch „mindestens 1,7 Millionen Hektar Wald seit Juni vernichtet worden, was etwas mehr als der Fläche Thüringens entspricht“. Traditionelle Grenzen werden löchriger, gleichzeitig werden auf neuen Landkarten die Linien zum Meeresspiegel und die Konturen neuer geopolitischer Machtlandschaften, von denen die Piraten in den überfischten Gewässern vorm zusammengebrochenen Staat Somalia künden, wichtiger.
Mancher wird das als Horrorszenario irgendwelcher Ökospinner dummdreist, nämlich uninformiert, abtun; ahnungslos auch hinsichtlich des Szenarios, das längst deutsche Militärexperten vor Augen haben, wie Korvettenkapitän Dr. Torsten Albrecht und Kapitän zur See Jens Beckmann, beide Angehörige der Gruppe Zielbildung im Marineamt: „Eine Migration großer Bevölkerungsanteile wäre somit unumgänglich. (…) Aufgrund der zunehmenden Bevölkerungszahlen und der fortschreitenden Umweltzerstörung reduziert sich die Zahl der möglichen Auswanderungsgebiete, in denen zusätzlich zur dort einheimischen Bevölkerung noch Auswanderer liebenswürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfinden können. Dies impliziert verschärftes Konfliktpotential zwischen den Einwanderern und der einheimischen, lokalen Bevölkerung hinsichtlich der meist knappen vorhandenen Ressourcen. (…) Bei Anhalten dieser Situation können so aus Konkur-renzen gegebenenfalls Feindschaften entstehen, die sich in Fremdenhass und in gewaltsamen Auseinandersetzungen äußern können.“ (Die Klimadiskussion im sicherheitspolitischen Kontext, in: Der Mittler-Brief / Informationsdienst zur Sicherheitspolitik, Nr. 1/2011).
Bei Flucht und Vertreibung denken trotzdem viele Deutsche immer noch nur an die Tragödie ihrer Landsleute am Ende des Zweiten Weltkrieges – als 10 bis 15 Millionen aus deutschen Ostgebieten vertrieben wurden, was zwei Millionen nicht überlebten. Auch die sechs Millionen, die aus der DDR flüchteten (darunter, im AfD/Pegida-Jargon, nicht wenige „Wirtschaftsflüchtlinge“), sind dem deutschen Michel noch in Erinnerung. Der aber kaum Bescheid weiß, was zeitgleich in der damaligen „dritten“ Welt geschah: Dass 1947 bei der Teilung von Britisch-Indien sieben Millionen Muslime und über acht Millionen Hindus und Sikhs die Heimat wechselten; dass 1971 im ostpa-kistanischen Bürgerkrieg zehn Millionen nach Indien flohen; dass nach der Intervention der UdSSR 1979 in Afghanistan rund fünf Millionen nach Pakistan oder Iran flüchteten und dass wir heute weltweit ein „Nomadenproletariat“ haben, wie Alain Badiou in seinem Vortrag zu den Pariser Massenmorden, im Stadttheater von Jenas Partnerstadt Aubervilliers am 23. November, die für uns bisher „unsichtbaren“, politisch nicht repräsentierten Armen nannte.
Die Freude über das Verschwinden des Eisernen Vorhangs durch Europa und den Fall der innerdeutschen Grenze verschleierte den Blick auf das Faktum, dass ringsum in den vergangenen Jahrzehnten die Grenzen immer länger wurden.
Speziell im Gebiet Neufünflands‘ konnte man von 1933 bis 1990 dem Ideal eines homogenen, ausländerfreien deutschen Volks frönen. Alfred Kosing philosophierte entsprechend im SED-Parteiverlag: „In der DDR gibt es aber auch Bürger anderer Nationalität, vor allem die relativ bedeutende Bevölkerungsgruppe der Sorben.“ Diese bildeten jedoch, so Kosing, „einen Restbestand“, der „mehr und mehr“ zu einem „Bestandteil“ der sozialistischen deutschen Nation werde. (Nation in Geschichte und Gegenwart – Studie zur historisch-materialistischen Theorie der Nation, Ost-Berlin 1976.) Wie mit den „Vertragsarbeiter“ aus Vietnam oder Mosambik in der DDR umgegangen wurde, spricht Bände: Gettoisierung und Abschiebung bei Schwangerschaft. Die Sowjetzone in ihrer Kleinheit und Kleinlichkeit – eine national befreite Zone. Gewiss sollte dieses DDR-Erbe nicht bagatellisiert werden, aber es ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung zum Popanz zu stilisieren, ist unangebracht. Was bedeuten schon alle fünf „neuen“ Bundesländer im wiedervereinigten Deutschland? Sie sind grade mal so groß wie das bevölkerungsreichste Bundesland der „alten“ Bundesrepublik: Nordrhein-Westfalen. Das taugt für ein paar MDR-Ostalgie-Sendungen, Ampelmännchen-Romantik und lächerliche Ossi-T-Shirts. Auch wenn das im Osten Deutschlands noch nicht angekommen ist, die demographische Entwicklung kennt keine Naturschutzgebiete für Ost-Reservate: 2015 gibt es laut Statistischem Bundesamt in Gesamtdeutschland bereits 16,4 Millionen Einwohner mit „Migrationshintergrund“.
Mit provinziellem Denken halten wir Entwicklungen nicht auf, wir ignorieren sie nur – bis sie uns überrollen und dann unvorbereitet treffen. „In allen früheren Geschichtsperioden bot sich die Welt dem Menschen nur stückweise dar; das ungeheuer große Ganze entzog sich seinem Blickfeld, seiner Vorstellungskraft und seinem Planungsvermögen. Er konnte nur Teilprobleme anpacken daher auch nur Teillösungen erzielen. Dagegen ist die Welt heute ‚eins‘“ (John H. Hertz: Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961). Ewiggestriger ist, wer in Zeiten des Hochfrequenz-handels an der Börse und des Periscope-Livestreams auf dem Mobiltelefon glaubt, sich in ein-gebildeter Nationalstaat-Idylle vom Weltgeschehen abkoppeln zu können. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat recht: wir erleben gerade ein „Rendezvous mit der Globalisierung“. Statt uns in vergebliche Abwehrkämpfe zu verstricken, sollten wir das ordentlich regulieren: Grenzkontrollen, Unterkünfte, Arbeitsmarkt.
Schon 1989 besang Udo Lindenberg in „Bunte Republik Deutschland“ die Ankunft der Fremden: „Wir stehen am Bahnsteig und begrüßen jeden Zug, graue deutsche Mäuse, die haben wir schon genug“. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat 2011 errechnet, die demographische Entwicklung Deutschlands erfordere als Ausgleich eine jährliche Nettoeinwanderung von 100.000 bis 200.000 Arbeitsfähigen. Diese Berechnungen sind jedoch vielen unbekannt: „Laut einer im Januar 2015 durchgeführten Befragung der bundesdeutschen Wohnbevölkerung glaubt mehr als ein Viertel aller in Deutschland Lebenden, dass die Bevölkerung auch längerfristig ohne Einwanderung nicht schrumpft. Nur weniger als ein Viertel schätzen die Größenordnung der demographischen Herausforderung richtig ein. Tatsächlich würde das Erwerbspersonenpotential ohne Einwanderung bis 2060 um mehr als 20 Millionen zurückgehen.“ (Ludger Pries: Es geht nur europäisch – Chancen und Herausforderungen für das Einwanderungsland Deutschland, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 12/2015).
Das Problem ist weniger, ob wir „Weltsozialamt“ werden, sondern ob bei der bisherigen Bevöl-kerungsentwicklung ein mit dieser Floskel herum nölender, urdeutscher Hartz-IV-Empfänger zukünftig überhaupt noch Leistungen von seinem Sozialamt auf gewohntem Niveau erwarten dürfte. Vielleicht wird das überalternde Deutschland einmal dankbar sein, dass Sozialsysteme stabilisiert und Pflegenotstand beseitigt werden konnten, weil eine Kanzlerin anno 2015 als Chance witterte: Wir schaffen das!

Buchtipp: Eine gute Orientierung im aktuellen Flüchtlingsstrom nach Deutschland bietet das von Anja Reschke, Moderatorin des ARD-Magazins „Panorama“, herausgegebene, am 4. Dezember in den Handel gekommene Buch: „Und das ist erst der Anfang – Deutschland und die Flüchtlinge“ (Rowohlt-Verlag, 336 Seiten/12,99 Euro).
Buchbesprechung von Günter Platzdasch

Autor: Günter Platzdasch, Mitglied des Ortsteilrates Winzerla

2 Kommentare

  1. sinnfrei - 11. Dezember 2015

    wars das schon Günther?

  2. ralf niere - 13. Januar 2016

    hallo günther,
    machen personen wie seehofer, söder, de maiziere usw uns nicht jahrelang vor, wie provinzielles denken par excellence funktioniert ?
    warum müssen cdu und fpd nach dieser fatalen nacht in köln gleich wieder um posten schachern, statt gemeinsam über die fremden- und islamproblematik und integration derer zu diskutieren und nach lösungen zu suchen ?
    für die kleinen bürger sieht es doch immer wieder so aus, daß den großen alles bleibt und der kleine immer wieder sein sauer erarbeitetes hergeben muss für aufgaben eines staates, dessen politiker immer wieder die hand aufhalten, aber sofort einen strohmann parat haben, wenn es um die verantwortung irgendeiner sauerei geht.
    irina kummert hat heute einen artikel im mm, der in etwa dieses problem beleuchtet und auch sie sieht die probleme von oben herab.
    wer hat denn aus geldnot oder weil die steuererhebung falsch läuft, jede menge polizisten ,lehrer, pflegepersonal entlassen, die bildung , die infrastruktur aus dem auge verloren, die rentenkürzungen veranlaßt ?
    das sind die dinge, die dem kleinen mann sorgen bereiten und daß er immer mehr das gefühl kriegt, die da oben interessieren sich sowieso nicht für den wähler, sie sind lediglich stimmvieh.
    und mal ehrlich, hast du denn noch das gefühl, unsere poltiker haben in wirklichkeit einen plan ?
    ich nicht
    liebe grüße ralf

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