Erfahrungen vom Leben in Winzerla vor und nach der Wende

Erfahrungen vom Leben in Winzerla vor und nach der Wende

Jena Winzerla. In zwei Jahren wird in Winzerla der 50. Geburtstag des Stadtteils gefeiert. Als Auftakt für das Jubiläum gab es am 15. November eine Veranstaltung in der Aula der Schillerschule, zu der Stadtteilbüro und Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ eingeladen hatten. Moderiert von Stefan Peter Andres, Fachhochschule Erfurt, diskutierten zahlreiche ältere und junge Winzerlaer über „Leben und Wohnen in Winzerla“, so der Titel des Abends. Als Impulsgeber waren die ehemalige Pastorin Sieglinde Seibt (Jahrgang 1941) und Günter Platzdasch (Jg. 52) eingeladen. Sieglinde Seibt sprach von der Freude, die Wohnung in der Brecht-Straße beziehen zu können: „Eine warme Wohnung, kein Kohlenschleppen mehr, für uns einfach wunderbar.“ Der Wohnblock sei „Typ Magdeburg“ gewesen, das hieß, er hatte eine Küche mit Fenster! Zugleich erinnerte sie an Absurditäten des DDR-Alltags wie das obligatorische Führen des Hausbuches, in das sich Besucher eintragen mussten. Sieglinde Seibt sprach auch von den wunderbaren Erfahrungen, die sie bei Hausbesuchen im Auftrag der Kirche machte. Doch es habe auch Negatives gegeben, etwa um 1990 die Aufschrift „Russen raus!“ am Fußgängertunnel. Dort habe ein findiger Künstler bei einem Graffiti-Workshop „Rüsselmaus“ daraus gemacht.
Günter Platzdasch sprach als „Wessi“, dessen Erfahrungen indes nicht typisch sind. Habe er doch beispielsweise seine Ferien immer bei den Verwandten in Thüringen verbracht und so die Strände Spaniens oder Italiens nie kennengelernt. Platzdasch wohnt seit 1991 in Jena, der gebürtige Eisenacher kam aus Hessen nach Thüringen. Nach verhaltenem Beginn wurde angeregt debattiert. Über das Leben in der „Platte“ hieß es in der Runde, alles in allem sei es ein guter Stadtteil. Kein Zweifel: Die Innensicht sei immer besser als der Blick von außen.
Bemängelt wurde das Fehlen einer schönen Eckkneipe, wobei deren Betrieb als riskant eingeschätzt wurde: Gibt es genügend Umsatz? Außerdem wurde angemahnt, dass beim Wohnungswechsel von einer großen in eine kleinere Wohnung eine deutlich niedrigere Miete geboten sei. Aber wie sollen solche Forderungen durchgesetzt werden? Stefan Peter Andres empfahl den Anwesenden, sich an die Eingaben aus DDR-Zeiten zu erinnern: „Schreiben Sie doch einfach wieder Eingaben! Fordern Sie die Dinge ein, die ihnen wichtig sind!“ Warum nicht wieder eine kleine Revolution anzetteln?, fragte Andres. Günter Platzdasch gab sich da äußerst skeptisch: „Ich denke, die Revolution in Winzerla ist fern!“

Autor: Stephan Laudien

Nachfolgend können Sie einen weiteren Bericht zur Veranstaltung lesen, von Katharina Kempken (Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“)

Am Donnerstag, den 15. November organisierte das ThürAZ gemeinsam mit dem Stadtteilbüro Winzerla ein Gespräch zum Thema „Wohnen und Leben im Neubaugebiet Jena Winzerla“. Unter der Moderation von Stefan Peter Andres, Dozent an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Fachhochschule Erfurt, tauschten sich jüngere und ältere EinwohnerInnen über die spezifischen Wohn- und Lebensbedingungen in der Großwohnsiedlung in Vergangenheit und Gegenwart aus.
Einen Impuls über das Wohnen in Winzerla vor 1989/90 gab die ehemalige Pfarrerin der Ortsteilgemeinde, Sieglinde Seibt. In den 1960er Jahren hatte die gebürtige Jenenserin eine Ausbildung zur Industriekauffrau beim VEB Carl Zeiss gemacht. 1972 erhielt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter eine Wohnung in einem der ersten Neubaublöcke im Westen Winzerlas.
Nachdem sie zunächst zuhause bei der 1967 geborenen Tochter geblieben war, entschloss sie sich Ende der 1970er Jahre, ein Theologiestudium an der Friedrich-Schiller-Universität aufzunehmen. Im Anschluss an das Studium übernahm sie 1985 die neu eingerichtete Sonderpfarrstelle in Neu-Winzerla, um vor Ort eine Gemeinde aufzubauen. Gemeinsam mit ihrem Mann und engagierten Theologiestudenten warb Frau Seibt persönlich Gemeindemitglieder, indem sie das Gespräch mit den EinwohnerInnen suchte.
Die entstehende Gemeinde setzte sich vor allem aus jungen Familien zusammen, die vorrangig Wohnungen in Winzerla bekamen. Ein entsprechender inhaltlicher Schwerpunkt der Hauskreistreffen war das Thema Kindererziehung. So thematisierte Sieglinde Seibt mit den Gemeindemitgliedern moderne Erziehungsansätze, u. a. jenen des US-amerikanischen Psychologen Thomas Gordon. Auch die Themen der Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wurden diskutiert. Das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz betreffend, traf sich 1989 eine Projektgruppe in der Privatwohnung des Ehepaars Seibt in der heutigen Anna-Siemsen-Straße, die sich kritisch mit der durch den VEB Jenapharm geplanten Einrichtung einer Zytostatika-Anlage in der Ringwiese auseinandersetzte. Auch für die Treffen anderer Gruppen und Gesprächskreise wurde die Wohnung genutzt.
Das Zusammenleben im Wohnblock empfand Frau Seibt als harmonisch: Es sei von Toleranz und Zusammenhalt geprägt gewesen. Ähnlich erlebte es auch ein Zeitzeuge aus dem Publikum, der an der Errichtung des Neubaugebiets als Mitarbeiter des Wohnungsbaukombinats Gera beteiligt war und später selbst eine Wohnung dort bezog. Er berichtete von einer guten Hausgemeinschaft, die gemeinsam freiwillige Arbeiten zur Instandhaltung und Verschönerung des Wohnumfelds im Rahmen der „Volkswirtschaftlichen Masseninitiativen“ übernahm.
Von anfänglichen sozialen Schwierigkeiten nach dem Zuzug nach Winzerla berichteten andere Zeitzeuginnen aus dem Publikum. Eine Zeitzeugin, die 1983 eine Wohnung in der heutigen Anna-Siemsen-Straße erhielt, erinnerte sich, dass Alteingesessene den Verlust von Feldern und Land und damit u. a. die Einbußen der Nebeneinkünfte durch Obstverkauf schlecht verschmerzten. Dies hätten sie die ZuzüglerInnen spüren lassen. Ergänzend berichtete eine weitere früh zugezogene Zeitzeugin, dass erst nach und nach eine „Fusion“ mit den Alteingesessenen stattgefunden habe.
Für die Zeit nach der ‚Wende‘ schilderte Sieglinde Seibt ihre Erfahrungen mit Jugendlichen aus Winzerla, die die Wände in der Unterführung am Damaschkeweg mit teils ausländerfeindlichen Parolen beschmierten. Die von den Transformationsprozessen ab 1989/90 besonders stark betroffenen Jugendlichen sprach auch Günter Platzdasch an. Der Philosoph und Journalist, der 1990 aus den alten Bundesländern nach Jena kam und nach einer kurzen Etappe in Lobeda nach Winzerla zog, berichtete von einem tätlichen Angriff junger Skinheads auf eine Einwohnerin, der sich 1991 ereignete. Im 1991 eröffneten Jugendzentrum „Winzerclub“ (heute „Hugo“) trafen die Akteure des „Nationalsozialistischen Untergrunds aufeinander. In Winzerla durchliefen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ihre Sozialisation und ihre politische Radikalisierung.
Seit den 1990er Jahren hat sich der Stadtteil massiv verändert: Wohnkomplexe wurden saniert, neue Einkaufsmöglichkeiten entstanden und verschwanden wieder, das Freizeitangebot wuchs. Wie Günter Platzdasch anmerkt, ist ein drastischer Einwohnerschwund zu beobachten. Wohnten zum Ende der DDR noch fast 15 000 Menschen in Winzerla, seien es heute noch knapp 10 000. Viele der Einwohner, die schon zu DDR-Zeiten im Stadtteil wohnten, sind mittlerweile im Rentenalter, was spezifische Anforderungen an das Wohnumfeld mit sich bringt.
In einer Abschlussrunde wurden einige aktuelle Probleme der EinwohnerInnen angesprochen und nach Lösungsmöglichkeiten gefragt. Schwerpunkte waren die Anbindung an den Nahverkehr, bedarfsgerechtes Wohnen und die Gemeinschaft der MieterInnen. Ein konkreter Vorschlag hinsichtlich bedarfsgerechten Wohnens bestand darin, SeniorInnen, die auf der Grundlage alter DDR-Mietverträge in großen Wohnungen leben, den Umzug in kostengünstige kleinere Wohnungen zu ermöglichen. Markus Meß appellierte im Namen des Stadtteilbüros an die TeilnehmerInnen, sich bei solchen und ähnlichen Problemen, die das Wohnumfeld betreffen, an das Stadtteilbüro zu wenden. Gemeinsam könne man auf Wohnungsgenossenschaften oder städtische Behörden zugehen.
Das Leitmotiv, das Moderator Stefan Peter Andres für die Veranstaltung ausgegeben hatte – „Aus der Vergangenheit lernen und in der Gegenwart arbeiten, um die Zukunft zu gestalten“ – fand damit Impulse, die einen Auftakt für die weitere Gestaltung des Stadtteils und das dortige Zusammenleben bilden können.

Autorin: Katharina Kempken

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