Rückschau Erzählcafé - Offene Fragen zum NSU-Prozess
Jena Winzerla. Am 19.10. fand in der Aula der Galileoschule das Erzählcafé mit Frank Döbert statt, zu dem 16 Gäste kamen und mitdiskutiert haben. Frank Döbert hat sehr intensiv und tiefgreifend über die politischen Zustände zur Wende berichtet und dabei grundlegende und erschreckende Dinge beschrieben. So die Zeit direkt nach der Wende. Die rechte Szene bzw. rechte Strukturen wurden ganz bewusst aufgebaut als „Bollwerk“ gegen das Wiedererstarken kommunistischer Kräfte. Es ließe sich hier viel über die konkreten Zusammenhänge und welche Kräfte aktiv waren, die das Zugelassen bzw. ganz bewusst geduldet haben, schreiben. Das soll aber Frank Döbert obliegen, der mit vielen Zeitzeugen gesprochen und viele Akten dazu gesichtet hat. Stattdessen haben wir Frank Döbert noch vier Fragen gestellt, die er uns ausführlich beantwortet hat.
- Sehen Sie den NSU Komplex lückenlos aufgeklärt?
- Welche Fehler wurden bei Ermittlungen begangen?
- Welche Lehren ergeben sich für die Gesellschaft?
- Wie lassen sich nach Ihrer Meinung künftige Taten ähnlichen Zuschnitts verhindern?
1. Sehen Sie den NSU Komplex lückenlos aufgeklärt?
Das wird niemand wirklich behaupten wollen und können. Einige Argumente, die dagegen sprechen. In mehreren Bundesländern haben parlamentarische Untersuchungsausschüsse den Versuch unternommen, die Hintergründe der NSU-Verbrechen zu ergründen. Sie stellten fest, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ nicht etwa nur aus drei Personen bestand, sondern aus einem bundesweiten Netzwerk aus Unterstützern, die wiederum in diverse rechtsextreme Organisationen sowie Parteien eingebunden waren. In diesem Unterstützernetzwerk wiederum waren auf Landes- und Bundesebene durch diverse Geheimdienste sowie der Polizei eine Vielzahl von V-Männern platziert: Nicht nur um zu kontrollieren und abzuschöpfen, sondern auch zu lenken, zu leiten und zu fördern. Das ist insbesondere für Sachsen und Thüringen hinreichend nachgewiesen. Zum anderen sind durch die Arbeit der Ausschüsse unglaubliche „Pannen“ in der Ermittlungsarbeit der Behörden zum NSU zutage getreten. Dazu zählen unter anderem vernichtete oder verschwundene relevante Akten und Asservate. Anderes Material, das zweifellos weiteren Aufschluss liefern könnte, wurde teils auf Jahrzehnte gesperrt. Aus Gründen der Staatsräson? Was gilt es verbergen?
2. Welche Fehler wurden bei Ermittlungen begangen?
Sie alle aufzuzählen würde den Rahmen sprengen. Besonders prägnant tritt bei der „Fehlersuche“ die Abfolge der Ereignisse im Zusammenhang mit der Garage Nr. 5 im Garagenkomplex „An der Kläranlage“, in der Bombenbau-Materialien einschließlich Sprengstoff gelagert wurden, bis zur ungehinderten Flucht des Trios noch während der Durchsuchungen in insgesamt drei Garagen sowie der Wohnungen der Verdächtigen hervor. Unmittelbar nach der Entdeckung des Sprengstoffs stand in Gera kein Staatsanwalt zur Verfügung, der einen sofortigen Haftbefehl hätte unterschreiben können. Bald darauf wurde aus Sicherheitsgründen der Sprengstoff vernichtet, sodass im Nachgang lediglich unter Zuhilfenahme der ungefähren Größe des Plastikbeutels, in dem er sich befunden hatte, das wahrscheinliche Gewicht des Sprengstoffs berechnet wurde – etwa 1,4 Kilogramm, ausreichend für eine erhebliche Sprengwirkung. Beate Zschäpe soll angeblich per Telefon den Auftrag erhalten haben, mittels eines zuvor auf der nahen Tankstelle gefüllten Kanisters Benzin die Garage zur Vernichtung von Beweismitteln in die Luft zu sprengen. Weil sie aber Personen im Garagenkomplex sah, habe sie davon Abstand genommen. Diese Personen können zur fraglichen Zeit aber nur die an und in der Garage befindlichen Ermittler gewesen sein, die dann aber den Komplex keinesfalls weiträumig abgesperrt haben können. Erst ein Bombenentschärfer des Landeskriminalamtes konnte feststellen, dass in der Garage selbst keine unmittelbare Explosionsgefahr bestand. Nachdem sich am 4. November 2011 Mundlos und Böhnhardt in einem Wohnmobil in Eisenach offenbar selbst getötet und das Fahrzeug in Brand gesetzt haben sollen, hatte man nichts Eiligeres zu tun, als das Wohnmobil auf ein Abschleppfahrzeug zu verladen und abzutransportieren. Die Tatortsituation wurde damit in einer nicht nachvollziehbaren Art und Weise verändert.
3. Welche Lehren ergeben sich für die Gesellschaft?
Gefragt ist die ganze Gesellschaft, wenn es darum geht Rechtextremismus in allen seinen Ausprägungen einzudämmen und zu verhindern. Und dabei ist nicht geholfen, den Bürgern pauschal zu unterstellen, sie würden wegsehen, nichts hören wollen, oder, konkret Winzerla betreffend, einen einzelnen Sozialarbeiter als „Schuldigen“ am Entstehen des NSU auszuweisen. Vielmehr bedarf es zu Hause, in der Schule, im Jugendklub, auf Arbeit und hinsichtlich der sozialen Medien des Nachdenkens über einen nicht zuletzt mit den Wahlergebnissen sichtbar gewordenen latenten Rechtsruck in der Gesellschaft. Der Staat, die Behörden, müssen statt nur zu lamentieren klar machen, dass die demokratische Toleranz dort aufhört, wo eine rote Linie überschritten wird, und konsequent handeln. Ob indes als Prävention ein hochgerüsteter Überwachungsstaat, der alle Bürger zunächst unter Generalverdacht stellt, die Lösung aller Probleme ermöglicht, ist stark zu bezweifeln.
4. Wie lassen sich nach Ihrer Meinung künftige Taten ähnlichen Zuschnitts verhindern?
Die durch diverse Nebenbedingungen beförderte wie auch bedingte Radikalisierung des NSU-Kerntrios vom „Baseballschläger“ bis zu Sprengstoff, Banküberfällen und Mord lässt sich über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren verfolgen. Eine zweite NSU-ähnliche Verbrechensserie wird es in vergleichbarem Ausmaß sicher nicht geben können. Die Gesellschaft ist alarmiert. Es zeigt sich aber, dass trotz aller Frühwarnsysteme Einzeltäter, siehe Halle, einen Spielraum haben.
Die Fragen stellte Stephan Laudien.