Buchtipp und Buchbesprechung: „Und das ist erst der Anfang – Deutschland und die Flüchtlinge“

Buchtipp und Buchbesprechung: „Und das ist erst der Anfang – Deutschland und die Flüchtlinge“

Eine gute Orientierung im aktuellen Flüchtlingsstrom nach Deutschland bietet das von Anja Reschke, Moderatorin des ARD-Magazins „Panorama“, herausgegeben, am 4. Dezember in den Handel gekommene Buch: „Und das ist erst der Anfang – Deutschland und die Flüchtlinge“ (Rowohlt-Verlag, 336 Seiten/12,99 Euro).

Eine Rezension von Günter Platzdasch, Mitglied des Ortsteilrates Winzerla

Anja Reschke (Hrsg.) Und das ist erst der AnfangDie Autorenauswahl bewirkte zwar eine Schieflage: Die Armada von 14 Journalisten flankieren nur je vier Praktiker und Wissenschaftler. So stolpert man durch viele Storys, viele Wiederholungen, ein mitunter willkürliches Allerlei, findet doch jeder für seine Sicht der Dinge irgendeinen Beleg in den Flüchtlingsmassen. Dennoch lohnt die Lektüre der mehr als 300 Seiten, weil doch meist der Leser doch um viele Erkenntnisse reicher wird. Das ist Verdienst vor allem der über Einzelfälle hinausgehenden Beiträge.
Der Historikers Herfried Münkler erinnert gleich im ersten Satz seines Beitrags an das vergessene oder verdrängte Faktum: „Über die längste Zeit ihrer Geschichte ist die Menschheit migriert“. Münkler, Professor an der Berliner Humboldt-Universität und auch gelegentlich Berater von Regierenden in Berlin, zerstört die immer noch verbreiteten Träumerei, die Seefahrt im Mittelmeer kontrollieren zu können, mit Verweis auf die kurzen, wenn auch riskanten Distanzen: „Deswegen sind alle Projekte, in denen die USA, Kanada oder Australien zum Vorbild für eine europäische Einwanderungspolitik gemacht worden sind, sehr schnell Makulatur geworden. Es gibt zwar Politiker, die das notorisch ignorieren, aber der Praxistest, wenn es zu ihm denn käme, würde sie sehr schnell eines Besseren belehren. Im Prinzip genügt dafür aber der Blick auf die Weltkarte.“
An anderer Stelle wird im Buch genau ein Jahr zurückgeschaut, auf die Neujahrsansprache von Angela Merkel. Im Blick der Bundeskanzlerin auf 2015 kamen als große Herausforderungen Klimaschutz und Welthandel, die Flüchtlinge jedoch nur am Rande vor. Nebenbei bemerkt: Unbeachtet bleibt in dem Buch die Pointe, dass ausgerechnet Rechte, die traditionell das Primat der Außenpolitik betonen, innenpolitisch jammernd die Flüchtlingsaufnahme-Entscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September 2015 kritisieren. Merkwürdig eingedenk eines Leopold von Ranke („alle inneren Einrichtungen zu dem Zwecke einzurichten, sich zu behaupten“) oder der angelsächsisch-insularen Version eines Sir John Robert Seeley („Der Grad der Freiheit innerhalb eines Staates wird immer umgekehrt proportional sein dem Grad des Druckes, der auf seinen Grenzen lastet“).
Im Buch wird die Zahl der Flüchtlinge in Relation zur Einwohnerzahl gesetzt. In dieser Statistik liegen Libanon und Jordanien vorne, gefolgt von Nauru und Tschad; unter den europäischen Ländern führen Schweden und Malta – in dieser Statistik landet Deutschland auf dem Platz 50. Das Buch ist gespickt mit Informationen, um der deutschen Nabelschau einen Realitätsschock zu verordnen: „Mitte September 2015 meldete die indische Tageszeitung, The Hindu‘, dass sich in der nordindischen Stadt Lucknow auf 368 ausgeschriebene Stellen für Laufburschen insgesamt 2,3 Millionen Menschen beworben hätten, darunter mehr als 220.000 Ingenieure und sogar 255 promovierte Wissenschaftler.“
Für uns in Winzerla, die wir bisher vor allem mit Flüchtlingen aus Syrien zu tun haben, ist das von Kristin Hellberg verfasste Kapitel „Syrien – Ein Land in Auflösung“ besonders interessant. Ihre Ausführungen über den islamischen Staat wirken im Hinblick auf die Attentate von Paris inzwischen geradezu prophetisch.
Auch zum Kosovo, einigen durch die Vierlingsgeburt in Winzerla vor Augen gerückt, gibt es Informationen: „Jeder zweite Kosovare lebt von weniger als 1,42 Euro am Tag, jeder sechste hat gar weniger als 94 Euro-Cent. Jedes sechste Kind ist unterernährt. Die Arbeitslosigkeit ist mit geschätzten 50 Prozent die höchste in Europa. Nach Zahlen der Weltbank besuchen 35 Prozent der 15-bis 24-jährigen weder eine Schule oder Universität, noch gehen sie einer Beschäftigung nach. Das Kosovo hat die jüngste Bevölkerung Europas; jedes Jahr kommen annähernd 30.000 Kinder zur Welt, und bis zu 50.000 junge Schulabgänger drängen auf einen überfüllten Arbeitsmarkt.“ Der hohe Zigeuneranteil unter den Migranten vom Balkan wird beziffert – mit Hinweis darauf, dass diese Zahlen unzuverlässig sind, da sie allein auf einer Selbstauskunft beruhen: „Das kann, vor allem bei Bewerbern aus dem Kosovo und aus Serbien, allerdings auch taktische Gründe haben, denn die Zugehörigkeit zur Minderheit ist für manche Gerichte ein Abschiebungshindernis.“
Daniela Dahn beschreibt das Erwachen nicht nur der DDR-Bürger: „Die Flüchtlinge erteilen uns eine Lektion. Es war eine Lebenslüge zu glauben, ein kleiner Teil der Welt könne auf Dauer in Frieden und Wohlstand leben, während der Großteil in Armut und Bürgerkriegen versinkt.“ Verantwortlich sei der „Westens“ für das Chaos: „In den letzten 200 Jahren hat kein muslimisches Land gegen ein westliches Krieg geführt. Umgekehrt mussten die arabischen Länder über 20 Kriege und Invasion ertragen.“
In Erinnerung bleibe den Lesern dieser Neuerscheinung hoffentlich die Sehnsucht der 29-jährigen Iranerin Tara: „Ich möchte die Deutschen noch um eine Sache bitten: Sie haben mir oft gesagt, die Flüchtlinge integrieren sich nicht. Viele wollen sich integrieren, aber sie stehen vor einer kalten Wand. Wir brauchen nicht unbedingt Geld, Kleidung oder Spielzeug; was wir am meisten brauchen, ist Kontakt. Wir können nicht einfach durch die Straßen laufen und sagen: redet bitte mit uns. Wir brauchen Menschen, die dazu bereit sind.“

Autor: Günther Platzdasch

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